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Warum Disruption weh tut, kreative Zerstörung aber dringend in der Verlagsbranche gebraucht wird

Vulkan DisruptionGerne werden beim Blick der Auguren auf die Zukunft vieler Branchen munter Schlagwörter wie „Digitale Transformation“, „Change“ in verschiedenen Variationen oder gar die angsteinflößende „Disruption“ bemüht.
Letztere vermittelt dabei gerne den Eindruck, da käme etwas auf uns zu ähnlich dem Menetekel über Yucatan, das dafür sorgte, dass 1969 Säugetiere und nicht wechselwarme Reptilonauten aus der Apollo-Mondlandefähre Eagle stiegen. Es sollte uns die Mühe wert sein, einmal genauer hinter die Begrifflichkeit „Disruption“ zu schauen, denn vielleicht legt dort sogar ein Funken Hoffnung, zumindest aber ein eigentlich normaler Vorgang verborgen.

Wenn honorige Vortragende oder Artikelschreiber dem (Branchen)Publikum Angst einjagen mit dieser Disruption, dann fallen oft zwei Namen: Christensen und Schumpeter. Schaut man sich die Werke und Theorien beider Herren etwas genauer an, fällt einem aber doch ein sehr entscheidender Unterschied auf.

Clayton M. Christensen – bekanntgeworden vor allem durch sein Werk „The Innovator’s Dilemma“ aus dem Jahr 1997 –  spricht korrekterweise von „disruptiven Technologien“, womit gemeint ist, dass meist auf Nebenschauplätzen eine Technologie entsteht, manchmal auch im Keller eines großen Unternehmens, die, zunächst fatal unterschätzt, andere Technologien verdrängt. Und die in diesem Bereich agierenden Unternehmen, die den Wandel nicht schaffen oder einfach ignorieren, schlicht marginalisieren oder im schlimmsten Fall als historische Fußnotiz enden lassen.

Eines der bekannteren, gern publizierten Beispiele für das verheerende Wirken disruptiver Technologien ist Kodak. Obwohl dort durchaus Forschungen im Bereich digitaler Kameras vorgenommen wurden, und zwar sehr früh, unterschätzte man deren Potential und blieb lieber wie weiland der Schuster bei seinen Leisten. Das Ergebnis: „Kodak failed because it did not know how to disengage from a business it had relied on for decades” meint jedenfalls Justin Hendrix vom NYC Media Lab.

Ein aktueller Treiber der Veränderung in der Verlagsbranche ist das Selfpublishing. Aber wussten Sie, dass es so etwas auch in anderen Branchen gibt – etwa in der Kosmetikbranche? Tatsächlich hat die Harvard-Studentin Grace Choi eine Art Tintenstrahldrucker entwickelt, der Kosmetika aller Art auf der Basis verfügbarer „Rohstoffe“ in der eigenen Wohnung produziert. Die entsprechenden Wunsch-Farbmischungen werden direkt digital übertragen – kreativer Input (die hippe Farbenkomposition) und Mode-Community trifft direkt auf den Rezipienten, die klassischen Mittler und ihre Beratungsleistung, nämlich die Kosmetikstudios und –beraterinnen, werden nicht mehr benötigt (übrigens lohnt sich ein Blick in diese Branche schon allein aufgrund ihrer strukturellen Ähnlichkeiten mit der Verlags- und Buchhandelslandschaft). Und das alles mittels eines kleinen, harmlos aussehenden Gerätes und der Möglichkeiten, die die Digitalisierung als Kanal bietet.

Doch zurück zur Begrifflichkeit der Disruption. Ein paar Jährchen älter als Christensens Werke sind die des werten Joseph Alois Schumpeter, um genau zu sein hat er seine Theorie der „kreativen Zerstörung“ schon im Jahre 1942 in dem Buch „Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie“ formuliert. Und bei ihm bestand noch Hoffnung, auch angesichts disruptiver Veränderungen. Denn für Schumpeter ist jede Form der wirtschaftlichen Entwicklung notwendigerweise an ein gewisses Maß oben erwähnter kreativer bzw. schöpferischer Zerstörung gekoppelt. Das klingt denn auch im Kontext „Disruption“ ungleich versöhnlicher: „Durch eine Neukombination von Produktionsfaktoren, die sich erfolgreich durchsetzt, werden alte Strukturen verdrängt und schließlich zerstört. Die Zerstörung ist also notwendig − und nicht etwa ein Systemfehler −, damit Neuordnung stattfinden kann.“ Soweit Wikipedia zur Definition.

Eine solche kreative Zerstörung ist schon den unterschiedlichsten Unternehmen passiert – was uns mit dem auf die Gegenwart fixierten Blick schon gar nicht mehr auffällt. Oder wussten Sie, dass ein Unternehmen, einst bekannt für seine Korsettstäbe aus Stahl und robuste Kaffemühlen, heute eine bekannte Automarke ist? Die Rede ist von Peugeot. Tatsächlich produziert Peugeot in überschaubarem Rahmen immer noch Kaffeemühlen. Aber die Marke selbst steht für das neue Kernprodukt, nämlich Automobil.
Es gibt viele solcher (Transformations)Geschichten, etwa Panasonics Ursprung als Produzent von Glühbirnenfassungen und Fahrradlampen. Oder Nokias Ursprung aus Papierholz-Mühlen (eine stand am Flüßchen Nokianvirta – daher der Unternehmensname). Mit einem kleinen Umweg über Gummistiefel und Reifen (letzteres wird tatsächlich auch noch heutzutage produziert) wurde Nokia zum Sinnbild der Mobiltelefonie. Bis Apple kam. Aber das ist eine andere Geschichte. Oder wussten Sie, dass einer der Big Player unter den Verlagen, die Mediengruppe Pearson, einst ihr Geld mit dem Bohren großer Tunnels verdiente?

Man kann als Unternehmer aber nicht nur Hoffnung schöpfen bei vielen solcher Geschichten, sondern auch tatsächlich überlegen, inwiefern man selbst in solchen Disruptions-Phasen steckt. Und lernen. Das Unternehmen „Western Union“, führender weltweiter Anbieter von Bargeldtransfers, begann einst als Telegraphie-Unternehmen. Ein kleiner Bestandteil des Geschäftsmodells war schon damals der Transfer von Geld über größere Entfernungen. Als die Telegraphie durch das Telefon verdrängt wurde, blieb aber der bargeldlose Geldtransfer, wurde ausgebaut und zum heutigen Geschäftsmodell. Ein Schelm, dem bei solchen Entwicklungen Analogien zur Verlagswelt einfallen: was bleibt, wenn das Trägermedium, der „Telegraph“ der Branche, nämlich das Buch, dasselbe Schicksal erfährt? Was wird das „Western Union“-Geschäftsmodell der Verlage?

Oder gibt es bereits schleichend, vereinzelt solche „kreativen Zerstörungen“ inmitten der Verlagsbranche? Vielleicht hilft hier ein Blick gen Fachbuch- und Fachzeitschriftenverlage. Dort gibt es einige solcher Transformationen, etwa wenn Messen und Events immer mehr zum profitablen Modell werden, langsam sogar profitabler als der ursprüngliche Kernbereich, nämlich das Buch oder die Zeitschrift. Besonders spannend die Modelle, bei denen sich die Verlage als unentbehrlicher Bestandteil direkt in die Arbeitswelt und –umgebung ihrer Zielgruppe einklinken, dafür stehen Unternehmen wie Haufe (die sich ja schon lange nicht mehr als klassischen Verlag sehen, sondern als Medien- und Software-Haus), Thieme und andere.

Aber auch andernorts sind solche Modelle im Entstehen, hier lohnt ein genauer, analytischer Blick auf die Unternehmungen der Kölner Kollegen von Bastei-Lübbe und ihre Diversifikationen wie etwa dem Spielentwickler Daedalic. Wohlgemerkt, ein Blick auf die Möglichkeiten, kein neidischer Blick in irgendwelche Portokassen, das führt zu nichts. Und wer weiß – in Hamburg sitzt ein Kinderbuchverlag namens Friedrich Oetinger, der eine Software-Sparte aufbaut. Vielleicht eines Tages eine Art „Peugeot“ der Softwareindustrie, der aus nostalgischen Gründen auch noch ab und an ein gedrucktes Kinderbuch verlegt?
Das perfide Kennzeichen von Disruption ist ja eben nicht dieser oft zitierte „Tsunami“-Effekt, auch wenn die Begrifflichkeit emotional anders belegt ist. Disruption ist eher ein Tsunami in Zeitlupe, was aber nichts an der Endgültigkeit ändert. Der Unternehmensberater Ehrhardt F. Heinold merkte kürzlich an, „Disruption, das klingt nach dramatischer Veränderung, die irgendwie aus dem Nichts hereinbricht. Doch dieser Eindruck trügt […] auch disruptive Innovationen (benötigen) Jahre, um sich durchzusetzen“.

Aber was bleibt? In jedem Fall die Tröstlichkeit, dass Disruption im Schumpeterschen Sinne, wenn sie auf unternehmerisches Geschick trifft, etwas Normales, durchaus Positives sein kann. Und die Gewißheit, dass ein Negieren von Entwicklungen zu einem fröhlichen Nischen-Dasein führen wird. Vielleicht lässt sich doch lernen aus all den „Western Union“-Veränderungen?

Wenn Ihnen also beim nächsten Mal jemand etwas von der brachialgewaltigen Disruption erzählt, die uns alle vom Antlitz dieses Planeten fegen werde, dann fragen Sie doch vorsichtig nach, ob er oder sie die Christensensche oder die Schumpetersche Version der Disruption meint. In letzterem Fall besteht dann für alle Beteiligten noch Hoffnung.

Teaserbild: Wikimedia.org

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