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Der Tod des Universalgelehrten – zielgerichteter Mikrocontent als Allheilmittel?

Think outside the box... it's where the best ideas live. Zielgruppengerechter Content – als Allheilmittel und Mantra der Medienbranche unwidersprochen. Aber kann man das einseitige Spiel mit dem granulieren und mundgerechten Zuschneiden von Inhalten vielleicht auch übertreiben? Ist das Erfüllen des vermeintlichen Nutzerwunschs, der vorauseilende Leserwunschgehorsam vielleicht auch übertreiben? Some thoughts…

Letzte Woche veröffentlichte kress.de unter dem Titel “Individuelle Inhalte verdrängen die Universalmedien” einen Gastbeitrag von Oliver Numrich, Geschäftsführer von  Goldmedia Analytics. Er beleuchtet dabei den Trend (und das wachsende Bedürfnis) hin zu immer stärker individualisierten, auf den Nutzer zugeschnittenen Informationskanälen: “Diese selektive und hochgradig individualisierte Mediennutzung beschränkt sich nicht auf eine flamboyante Berliner Medienavantgarde, sondern ist ein Generaltrend, der sich unterschiedlich facettiert inzwischen überall wiederfindet: Ob Digital Native oder Silver Surfer, die Internetnutzer haben zwangsläufig gelernt, den allgegenwärtigen „information overflow“ zu kanalisieren und die Nachrichtenströme an ihre persönlichen Bedürfnisse anzupassen.”

Dabei führt er zwei Beispiele an: die niiu-App (quasi die Tageszeitung zum Selbst-Zusammenstellen) und die Auswirkungen der Produkt-Digitalisierung in der Musikindustrie.

Nun muß man dazu sagen, daß niiu ja durchaus eine Vergangenheit vor dem App-Launch hatte, und zwar als Print-Produkt. Über einen lokalen Test kam das Projekt nicht hinaus, wegen “logistischer” Probleme. Nun muß es eben die App richten, das Prinzip ist dasselbe: “Der Leser wählt aus über 25 Tageszeitungen die Infos aus, die er gerne haben möchte und bekommt sie als selbst zusammengestellte, digitale Zeitung im einheitlichen Look auf den Bildschirm.” schreibt Patrick Steller.

Oliver Numrich interpretiert dies so: “Warum soll ich für all die Ressorts und Beilagen bezahlen, die mich weniger stark interessieren oder andere Medien besser bedienen können? Was einst als  die Kernkompetenz einer Zeitungsredaktion gesehen wurde, für ihre Leser die wichtigsten Informationen auszuwählen und als Kuppelprodukt zu verbreiten, wird zu ihrem größten Manko: Denn die einzelnen Leser hatten schon immer weniger gemeinsam als die Redaktionen vielleicht dachten.”

Stirbt der Leser als „Universalgelehrter“?

Dies reduziert den “einzelnen Leser” aber auf den nackten Informations-Rezipienten, der alles kaufen musste, um letzten Endes wenig (für ihn) Interessantes zu bekommen. Und tatsächlich ist es doch so, dass beruflich, mehr und mehr aber auch privat getrieben unsere Interessen immer mehr fokussieren, immer individueller werden, um dann doch in unserer Nische immer noch mit Informationen überflutet zu werden, wenn sich selbst für die abstrusesten Dinge noch Communities in relevanter Größe finden. Wer kann denn heute guten Gewissens behaupten, selbst in seinem beruflichen Umfeld alle relevanten Informationen parat zu haben? Ist heute noch ein Leser-Typus oder ein Berufsbild nach dem Muster eines Leonardo da Vinci, eines Gottfried Wilhelm Leibniz oder Alexander von Humboldt denkbar? Stirbt der Leser als “Universalgelehrter”?

Man würde die Welt vermutlich zu eindimensional sehen, wenn man diese Frage mit einem klaren “Ja” beantworten würde. Denn neben dem reinen Informationsgehalt (und natürlich der Unterhaltung) suchen Leser/Nutzer doch immer fast instinktiv Orientierung und sind neugierig – und zwar über den berühmten Tellerrand hinaus.

Braucht es Konzept-Alben für unseren Informationsbedarf?

Numrich sieht bei der von ihm skizzierten Entwicklung auch Parallelen in der Musik-Industrie: “Die Musikindustrie hat den Umbruch bereits hinter sich…CDs sind – wie Vinylplatten – Liebhaberstücke, und längst kaufen wohl nur noch treue Fans das gesamte Album eines Musikers. Viel eher kauft man die besten Songs einzeln bei iTunes und Musicload oder nutzt gleich Streamingdienste wie Spotify oder Soundcloud.”

Vielleicht haben wir hier aber auch ein Henne-Ei-Problem? Vor allem in Zeiten von Vinyl, der Buch-Kodex-Form für Musik, konnte mit dieser geschlossenen Einheit künstlerisch gearbeitet werden (man nannte das damals gern “Konzept-Album”). Einzelne Stücke konnten gehört werden, gaben aber erst im Gesamtkontext wirklich Sinn resp. ergaben den vollen Genuß. In Zeiten von mp3 steht aber nun das einzelne, solitäre Stück im Vordergrund.

Flatrates: konzipiert für Flaneure oder Punktlander?

Und vielleicht gilt dies ja für granulierteste Inhalte ebenso? Vielleicht gibt erst der Gesamtkontext über eben jenen Tellerrand hinaus, im Zusammenhang mit anderen, wirklich erst Sinn? Vielleicht braucht es weit gespannte Konzept-Alben für unser Wissen, unseren Informationsbedarf, um zu verhindern, daß wir am Ende als Fach-Idioten den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen? Vielleicht braucht nicht nur die Wissenschaft sondern wir auch mehr interdisziplinäre Rezeption? Gibt es breit gestreutes Massen-Fernsehen in Zeiten hunderter von Spartenkanälen wirklich nur noch wegen der öffentlich-rechtlichen Förderung weniger Sender?

Das widerspricht alles im übrigen ganz und gar nicht dem Prinzip der kleinteiligen Informationsaufnahme und es gibt keinen Zweifel, daß die Reise dorthin geht – aber vielleicht ist diese solitär gesehen und genutzt zu einseitig, zu sehr Effizienz und Maschine und zu wenig “Mensch”. Numrich zitiert oben Spotify als Beispiel – dabei sind gerade Informations- oder wie hier Musik-Flatrates eher Tools für Flaneure denn für Punktlander. Man bekommt maschinell, vor allem aber von anderen Nutzern über Playlists und Empfehlungen Einblick in Musik, die man sonst selbst, fokussiert auf die eigensubjektive Geschmacksrichtung, nie bekommen hätte.

Und vielleicht wird es auch Aufgabe für Informations-Kuratoren, als die gerade Zeitungsredakteure immer mehr gesehen werden, nicht nur kleinteilige Orientierung zu geben, sondern auch Anregung und auch kreative Störung meines eigenen immer mehr fokussierten Ichs im gefühlten Informationsdschungel?

Bildquelle: Flickr ArtJonak
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