Ihr erster Blick fällt auf eine an Second Life erinnernde Supermarktumgebung. Der Avatar zu Beginn: eine Verkäuferin. Der Start: die Gemüse- und Obstabteilung. Erste Informationen über Südtiroler Äpfel und eine Warenkunde zu Kartoffeln werden eingeblendet. Jetzt heißt es aber, sich anzustrengen, schließlich möchte man im virtuellen Supermarkt vom Verkäufer zum Marktleiter aufsteigen. Ein ganz normales virtuelles Spiel? Ja – und Nein. Denn der „virtuelle Supermarkt“ ist eine digitale E-Learning-Plattform für den Lebensmitteleinzelhandel. Und dahinter steckt niemand anderes als das Unternehmen mediadidact, eine Tochter des Deutschen Fachverlags in Frankfurt. Ein Fachverlag, mit einem Serious Game – und dies auch noch wirtschaftlich erfolgreich? Endlich ein funktionierendes Geschäftsmodell für Verlage? Auch hier wieder: Ja – und Nein. Aber auf jeden Fall ein Thema, auf das ein genauerer Blick lohnt.
„Serious“ und „Gaming“ in einem Fachbegriff – geht das überhaupt oder ist dies nicht ein intrinsischer Widerspruch? Lernen und daddeln als Erfolgsrezept? Tatsächlich deutet viel darauf hin, Pädagogen wie Neurowissenschaftler verweisen gerne darauf, dass, wer spielerisch lernt, dauerhaft lernt. „Serious Games“, digitale Spiele in der Weiterbildung, setzen diese Erkenntnis der Lernforschung in ein Konzept um, das immer mehr an Bedeutung gewinnt. Im Ausland sind PC-Spiele, die Lerninhalte und Lernumgebung unterhaltsam verknüpfen, in der Aus- und Weiterbildung bereits etabliert, hierzulande steckt das Thema, zumindest für Verlage, noch in den Kinderschuhen. Wikipedia definiert „Serious Games“ folgendermaßen: „Unter Serious Games (englisch für ernsthafte Spiele) versteht man digitale Spiele, die nicht primär oder ausschließlich der Unterhaltung dienen, wohl aber derartige Elemente zwingend enthalten. Gemein haben Serious Games – sowie auch Lernspiele – das Anliegen Information und Bildung zu vermitteln; dies sollte in einem möglichst ausgeglichenen Verhältnis zu Unterhaltungsaspekten geschehen. Ein authentisches und glaubwürdiges, aber auch unterhaltendes Lernerlebnis steht im Mittelpunkt des Interesses, Genre, Technologie, Plattform und Zielgruppe variieren hingegen.“
Serious Games – auch für Senioren
Angelika Eckert, Journalistin und Autorin einer Studie zum Thema: „Serious Games sind digitale Spiele, deren primäres Ziel nicht die reine Unterhaltung, sondern eher die Vermittlung von Fertigkeiten oder Wissen ist. Sie transportieren spielerisch ernsthafte Inhalte – das können beispielsweise im beruflichen Umfeld Trainingsspiele für neue Maschinen sein oder für zu Hause Adventure-Games mit politischen Inhalten wie “Global Conflicts: Palestine“, das den Nahost-Konflikt thematisiert.“ Und ist bereits vielfältigst im Einsatz, gerne auch an Stellen, mit denen man anfänglich gar nicht rechnet, etwa bei der Gesundheitsprävention oder (eine völlig unerwartete Zielgruppe) bei Senioren. So berichtet das „Ärzteblatt“ über ein „Serious Game“ namens „Motivotion 60+“: „Mit dem computeranimierten System zum Kraft- und Balancetraining sollen Senioren über sportliche Übungen, die sie zu Hause durchführen können, ihre körperliche und geistige Fitness erhalten und verbessern. Die auch auf dem Fernsehbildschirm darstellbaren Spiele werden über das bekannte Videotracking-System „Kinect“ gesteuert, das die Bewegungen des Spielers über Sensoren erfasst. Der Anwender absolviert verschiedene „Minigames“, die Übungen mit motorischen oder kognitiven Anforderungen enthalten und auf eine Verbesserung der Kraft- und Balancefähigkeiten abzielen.“
Was haben Undercover-Cops und Wissensvermittlung miteinander zu tun?
Etwas näher an der Verlagsmaterie, dem klassischen Journalismus, sind sogenannte Newsgames, also die Anreicherung journalistischer Informationen mit spielerischen Elementen. Roman Rackwitz, Chef von engaginglab und Enterprise Gamification, Veranstalter der Gamify Conference auf den Münchner Medientagen und auf nationaler wie internationaler Ebene mit „Serious Games“ und Gamification aktiv, verweist hier als Beispiel auf das brasilianische Online-Magazin „Superinteressante“. Das Nieman Journalism Lab lobt diese Entwicklung als beispielhaft für den zukünftigen Umgang mit journalistischen Inhalten: „Newsgames are a relatively new format for storytelling, spanning the divide between reporting and video games, and gaining more credibility in the journalism world.“
Dabei kann das für uns West-Europäer durchaus skurrile Formen annehmen, etwa wenn man als Leser in die Rolle eines Undercover-Cops schlüpft, um die Drogenproblematik und vor allem die Hintergründe dazu besser verstehen zu können. Oder wie bringt man der „Generation Nintendo“ die Lehren führender Philosophen nahe? Indem man diese zu einer spannenden „battle of theories“ auffordert. Rackwitz sieht hier zwei entscheidende Punkte: „Erstens den Journalisten zu ermöglichen, Themen aus verschiedenen Blickwinkeln zu erklären und erlebbar zu machen, wie es unter normalen Umständen nicht möglich ist und zweitens einen interaktiven Kontext zu schaffen, der es dem ‚Leser‘ ermöglicht auch komplexere Sachverhalte besser zu verstehen.“
Bessere Vermittlung schwieriger Sachverhalte und das Erreichen neuer Zielgruppen – dies ist ja durchaus im Interesse vieler Fachverlage, deren tägliches Geschäft per se oft mit hochkomplexen Informationen verbunden ist. Zumal die nächste Generation von Lesern und Nutzern deutlich vor der linearen Rezeption etwa in Zeitschriften- oder Buchform an Schulen und Ausbildungseinrichtungen mit virtuellen Spielewelten in Berührung kommt, mit diesen aufwächst. Warum Verlags-Inhalte nicht in einer schon gewohnten Umgebung vermitteln anstatt eine völlig neue, für die heranwachsenden Zielgruppen ungewohnte, geradezu impressionslose und langweilige geradezu aufzudrängen? „Durch den Einsatz von „Serious games“ können Verlage ihren Content interaktiv und erlebbarer machen. Sieht man es mal aus der Sicht des Wettbewerbs um die Zeit der Kunden, konkurrieren Verlage ja direkt mit Medien, die auf Grund ihrer Interaktivität attraktiv sind. Content will lehren und durch „Serious Games“ und auch „Gamification“ können Verlage nun auch auf „Learning by doing“ zurückgreifen.
Nimmt man sich Spiele zum Vorbild, ist es leicht sich vorzustellen wie der ‚Leser‘ dann nicht nur beim Konsumieren des vorhandenen Contents bleibt, sondern selbst beginnt über diesen hinaus zu ‚forschen‘, entdecken, hinterfragen, testen und erweitern.“ So Roman Rackwitz über die Vorteile von Verlagen als Content-Anbieter in diesem Umfeld. Denn wer kennt die Zielgruppe besser und hat auch entsprechende Inhalte – als gerade Verlage? Und vielleicht bietet sich hier ja sogar ein Kooperationsfeld zwischen Spiele-Industrie auf der einen und Verlagen auf der anderen Seite, ohne dass es zum einen zu Konkurrenzsituationen kommt oder zur Substitution bestehender Verlagsprodukte?
Serious Games sind Neuland für Verlage
Trotz alle dieser Vorteile von „Serious Games“ sind Beispiele aus dem Verlagsumfeld rar. Während allerortens die Industrie mehr und mehr etwa zur Mitarbeiterschulung wie Kundeninformation solche Elemente einsetzt (und zwar mit selbst-generiertem Content) und sogar Bibliotheken sich intensiv mit dem Thema „Serious Games für die Informations- und Wissensvermittlung“ beschäftigen, schaffte es gerade einmal der Cornelsen-Verlag mit seinem Politik-Spiel „Genius“ halbwegs in die Öffentlichkeit, das immerhin die Comenius-Medaille der Gesellschaft für Pädagogik und Information e. V. erhielt. Ansonsten Brachland allerortens. Dabei lassen sich mit „Serious Games“ durchaus Umsätze erwirtschaften. Dies tut etwa der Deutsche Fachverlag mit den Angeboten seines Tochterunternehmens medididact und der Plattform „Virtueller Supermarkt“, die mit allen großen Handelsunternehmen der Lebensmittelindustrie zusammenarbeitet. Etwa mit in der Ausbildung nötigen Markenlehrbriefen, die durch die Industrie gesponsert werden, beispielsweise eine Warenkunde „Wie wird Schokolade hergestellt“, in Kooperation mit einem Schokoladenhersteller.
Interessantes weiteres Beispiel: der Börsenverein des Deutschen Buchhandels e.V., eine bestimmt nicht des Spielerischen verdächtige Organisation, fördert seit zwei Jahren in einer Art Versuchslabor namens „Prototype“ Zukunftsprojekte. Eines der Projekte aus dem Jahr 2013: „fly up!“, eine CoCreation-Plattform, die mit sehr spielerischen Elementen effektiv Ideenentwicklung in Verlagen fördern will. Stellt sich die Frage: wenn wir als Branche schon „Serious Games“ für uns selbst entwickeln, warum nicht für unsere Leser, Nutzer und Industriekunden? In Zusammenarbeit mit der Spieleindustrie könnten hier völlig neue, spannende – und ertragreiche Geschäftsmodelle entstehen. Let’s play!
Der Artikel „Let’s play a game! Serious Gaming für Verlage – spielerischer Unfug oder Geschäftsmodell?“ erschien zuerst in „impresso“, der Mitgliederzeitschrift des Südwestdeutschen Zeitschriftenverlegerverbands
Teaserbild: CRIMExTHINK</>
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